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Grand National - Die 2022er Edition

Noble Yeats ist nach rund sieben Kilometern vor Any Second Now. www.galoppfoto.de - JJ Clark

Autor: 

Catrin Nack

TurfTimes: 

Ausgabe 714 vom Freitag, 15.04.2022

Drei Tage, elf Gr. I-Rennen, ein Rennen, das die Nation stoppt. Auch der Norden Englands kann Hindernisrennen, und Aintree's Grand National Meeting, mit dem ikonischen, umstrittenen, kontroversen, turbulenten, dramatischen, einmaligen Grand National am frühen Samstagabend Höhepunkt und gleichsam Abschluss des Festivals, beweist dies Jahr um Jahr.

Unvermeidlich, dass Vergleiche mit Cheltenham gezogen werden. Zwei Showcase-Festivals des Sports in so kurzem zeitlichem Abstand, „hot on their heels“, wie die Engländer wohl sagen würden, wie könnte man nicht vom Süden in den Norden schielen, und umgekehrt. Und hier liegt der erste Knackpunkt. Das (ökonomische) Nord-Süd-Gefälle Englands wurde an dieser Stelle häufig betont, und hat auch den National Hunt Sport im Griff. Die Mehrzahl der angesehenen Rennbahnen liegt im (reichen) Süden des Landes, der („arme“) Norden kämpft um sein Standing. Es scheint (Renn)gottgegeben, dass es „Cheltenham first, the rest nowhere“ heißen sollte, aber ganz so einfach ist die Sache nicht. „Gib mir Aintree vor Cheltenham jeden Tag“ erklärte der englische Champion -Trainer Paul Nicholls bereits vor Jahren; eine Aussage, die an Dramatik gewinnt.

Selbst Trainern wie Paul Nicholls und Nicky Henderson, der Creme de la Creme in England, fehlt es inzwischen in der Breite an Material, in Cheltenham mit den irischen „Powerhouses“ zu konkurrieren; da sind solche Aussagen auch ein gewisser Selbstschutz. Und hatte man in 2022 gehofft, dass Willie Mullins, nach seiner hervorragenden Bilanz in Cheltenham, die ihn auf Platz vier der britischen Trainerstatistik katapultierte, in Aintree „angreifen“ würde, so sahen sich Verantwortliche in diesem Punkt leider enttäuscht. Außer im Grand National - dazu später mehr - hielten sich irische Trainer, allen voran Mullins, mit ihren A-Teams vornehm zurück. Sicher, Gordon Elliott brachte Pied Piper und Zanahiyr über den Teich; und sein formidables Grand National Team umfasste sieben Pferde, darunter Cross Country-Sieger Delta Work mit einer Favoriten-Chance.

Doch die schieren Massen an irischen Starten, die in Cheltenham einfallen und dem Meeting seinen leidenschaftlichen „them (Irisch) and us (Britisch)“ Charakter geben, fehlen in Aintree ganz einfach. Erneut: außer im Grand National kann das Preisgeld, auch in besagten Gr.1-Prüfungen, mit Irland kaum mithalten, zudem lockt mit dem Punchestown-Festival Ende April ein Prestige-Meeting auf eigenem Boden. Warum das Pulver auf englischen Boden verschießen; historisch selbstredend eine nicht eben einfache Beziehung.

Dies alles soll Aintree keineswegs schmälern. Im Gegenteil. Aintree hat Klasse, Aintree hat das Grand National, und vor allem: Aintree hat Liverpool. Eine Stadt, eine Community, ein Menschenschlag. Mit Herz. 10.000 Tickets hatte der Jockey Club am ersten Renntag lokalen Krankenschwestern des NHS (National Health Service, dem englischen öffentlichen Gesundheitssystems) zur Verfügung gestellt, als Dankeschön für die harte Arbeit während der Pandemie (die es in England offiziell schon seit einiger Zeit nicht mehr gibt). Die Verbindung des Grand National zum Alder Hey Kinderhospital ist inzwischen eine herzerwärmende Tradition; auch in diesem Jahr besuchte der 2012er Sieger Neptune Collonges höchstpersönlich krebskranke Kinder; der Titel des ersten Rennens der Freitags-Karte buchstabierte die Verbindung ebenfalls.

Erneut wies die offizielle Rennkarte am Samstag Grand National-Starter Nr. 41 aus: ein Kind mit einer seltenen Erkrankung, für dessen Erforschung und/oder Behandlung Spenden gesammelt werden. Wo Cheltenham die ukrainische Fahne hisst und (halbherzig) politische Statements setzt, hat Aintree solche Ambitionen nicht, nie gehabt. Es würde Aintree unrecht tun, es als reine Partymeile zu bezeichnen, völlig falsch ist es nicht. Aintree, und seine Liverpool-Crowd, bringen Spaß auf die Bahn, selbstredend auch mit den entsprechenden Getränken unterstützt. Bier, Gin und Wein werden mobil unter die Leute gebracht, die Bars ächzen unter dem Ansturm, wie schon in Cheltenham läuft hier alles weitestgehend bargeldlos ab. Rund 300.000 pints Bier werden an den drei Tagen verkauft, oder war es pro Tag?

Sportlich stand der Ladys Day dem ersten Tag, welchen wir schon in der letzten Woche umrissen haben, wenig nach. Sechs der sieben Rennen hatten Graded-Status, davon vier Gr.1-Rennen. Bei der angesprochenen Zurückhaltung der Iren ging nur eine der Top-Prüfungen über die Irische See, ausgerechnet jedoch die Marsh Chase. Kennern oder Traditionalisten als Melling Chase bekannt, ist dieses Jagdrennen über rund 4000m das „main race“ am Freitag. Der von Joseph O`Brien trainierte Fakir D`Oudairies (Jockey Mark Walsh, Besitzer JP McManus) gewann das Rennen zum zweiten Mal in Folge, er bracht die beste Form an den Start und gewann, wie es sich für einen Favoriten gehört. Nicht, dass die Platzierten Hitman (Paul Nicholls, Lorcan Williams) und der Evergreen Sceau Royal (Alan King, Daryl Jacob) echte Stolpersteine gewesen wären.

Nicky Hendersons Jonbon, als Bruder des großen Douvan mit allen Vorschusslorbeeren der Welt behaftet, gewann die Betway Top Novices´ Hurdle (Gr.1, ca. 3300m). In Cheltenham nur vom Stallgefährten und potentiellen Superstar Constitution Hill geschlagen, musste der 6j. Walk in the Park, einem der heißesten Deckhengste der Szene, doch härter als erwartet kämpfen, um Willie Mullins´ El Fabiolo (Spanish Moon), zuvor lediglich Sieger einer Maiden Hurdle in Tramore, mit einem Hals in Schach zu halten.

Und dann war da noch Ahoy Senor. Seine schottische Trainerin Lucinda Russell und ihr Rennsport – und Lebens-Partner Peter Scudamore, Spross der gleichnamigen legendären Familie, kennen sich aus mit Triumph und Tragödie. Mit One for Arthur haben sie einen Grand National Sieger trainiert. Ein Kunststück, das dem vielfachen Champion-Jockey Peter Scudamore, seinerzeit einfach als „Scu“ bekannt, im Sattel nicht gelungen war. Sie haben gemeinsam Cheltenham Festival Sieger gestellt. Zehn Jahre ist es nun her, dass Brindisi Breeze, kaum sechs Monate nach seinem bahnbrechenden Erfolg in der Albert Bartlett Novices` Hurdle, auf der Koppel verunglückte, und wenig später auch Jockey Campbell Gillies, erst 21jährig., nach einem tragischen Badeunfall verstarb. Seitdem sehen beide den Erfolg mit anderen Augen, und Gillies ist in allen Gedanken fest verankert, unvergessen. Mit Ahoy Senor, der an dieser Stätte bereits im letzten Jahr zum Zuge kam, hat der Stall ein echtes Klassepferd, und die Manier, mit der er in Mildmay Novices´ Chase (Gr1, 5020m) ein zwar sehr kleines, aber feines Feld besiegte, brachte ihm umgehend einen Kurs von ca. 10/1  für den Cheltenham Gold Cup 2023 ein.

Der Zwiespalt um das Grand National

Unzählige Bücher wurden über das Grand National geschrieben, seine Historie beleuchtet, umgeschrieben, erneuert. Ein Rennen, das vor 50 Jahren vor dem Aus stand, bis ein Pferd namens Red Rum kam, sah - und siegte. Dreimal, um genau zu sein, bei fünf Auftritten wurde er zudem zweimal Zweiter. Seine Statue ziert die Rennbahn, die Büste seines Trainers Donald „Ginger“ McCain wacht über den Führring. In seinem Heimatort Southport, unweit der Rennbahn gelegen und wo er legendär im Hinterhof einer Gebrauchtwagen-Handlung vornehmlich am Strand trainiert wurde, ist erst vor kurzen ein riesiges Gemälde an einer Häuserwand aufgetaucht.

Waren es vor 50 Jahren vornehmlich finanzielle Gründe, die die Rennbahn Aintree, und das Grand National, an den Rande des Ruins gebracht hatte, so muss sich das Rennen seit Jahren neuen Herausforderungen stellen. Sich stetig neu erfinden. Nicht stillstehen. Neuen Anforderungen und Ansprüchen gerecht werden. Die Balance zwischen spannendem Sport, einzigartigem Rennen und Tierschutz schaffen.

Inzwischen Teil des Jockey Club-Rennbahn-Kollektion, gehören finanzielle Probleme lange der Vergangenheit an, das Rennen verkauft sich von selber, ist seit Jahren ein Sell-out. Doch wenn sie in Deutschland vielleicht nicht vernommen wird, gibt es auch in England eine stetig wachsende Opposition zum Rennen, gar zum Rennsport allgemein. Eine entsprechende Studie auf der Insel fand kürzlich heraus, dass fast 40% der um die 30jährigen dem Rennsport - nicht nur dem Hindernissport - mehr als indifferent gegenüberstehen und die Daseinsberechtigung des Sports gar insgesamt in Frage stellen.

Da braucht es Konzepte, Ideen; was es nicht braucht, ist ein Rennen, welches nach wie vor die Nation an die Bildschirme lockt (rund 7.5 Millionen Zuschauer verfolgten das Grand National im Free TV; 70.000 Zuschauer waren ein Full-House auf der Bahn), dessen Schlagzeile aber verunglückte Pferde sind. Auch hierzulande ist es nicht einfach, die Faszination dieses Sports zu vermitteln. Auf wenige, häufig zudem ausländische Teilnehmer geschrumpft, hat das sogenannte illegitime Metier - der Widerstand schon in der Umschreibung - kaum noch Platz im deutschen Rennkalender. Die Standards, und die Passion, mit der die Zuschauer in England und Irland diese Rennen, vor allem natürlich ihre Teilnehmer, feiern, muss man erlebt haben, um sie zu verstehen. Doch wie erklärt man die Leidenschaft für einen Sport, ein Rennen, das Helden macht, aber Opfer fordert? Wie leben mit dem Zwiespalt, dass der Leistungssport kein Ponyhof ist, dass Leistungssport keine Tierquälerei ist, aber trotzdem so öffentlich die Nähe zwischen Leben und Tod demonstriert? Wie verständlich machen, dass wir, die Fans, um und mit diesen Pferden leiden, uns um sie sorgen, auch wenn sie häufig nur Figuren auf dem Bildschirm sind? „Den Hindernissport zu lieben, ist immer auch ein Pakt mit dem Teufel“ schrieb einer der angesehensten englischen Rennsportjournalisten, Alistair Down, bereits vor Jahren.

Viele Veränderungen wurden in den vergangenen Jahren vorgenommen, Hindernisse entschärft, allen voran das berüchtigte Becher´s Brook. Die Hindernisse wurden modifiziert, so dass reiterlose Pferde mühelos seitlich vorbeilaufen können, bzw. im Notfall umrundet werden können. In Zeiten des Klimawandels gibt es einen spezielle Abkühlbereich mit großen Ventilatoren, sollte das Wetter Anfang April entsprechende Kapriolen schlagen.

Triumph eines Amateurs

Vierzig Pferde standen um 5:15 Ortszeit an den Startbändern, ein Startplatz seit Jahren begehrt und immer „ausgebucht“; es gibt sogar Reservelisten. Offiziell ein Handicap mit Grade 3 -Status, gelaufen über lungenstrapazierende 6907m, ist die Klasse der Starter stetig gestiegen, das offizielle Rating des Höchstgewichts Minella Times, dem sensationellen Vorjahressieger unter Rachael Blackmore, beträgt 161, wie das des Gr.1 Starters Edwardstone. Viel wurde im Vorfeld spekuliert, welche Geschichte die jüngste Austragung des Grand National denn nun schreiben würde; nach dem Rennen was sie so offensichtlich, dass die Siegquote von 50-1 nur eine Randnotiz war. „Zu jung, keine Form, keine Chance, und das ist alles, was Du wissen musst“ hatte eine große britische Tageszeitung formuliert; kein Wunder also, dass der erst 7j. Yeats-Sohn Noble Yeats, in Irland von Willie Mullins´ Neffen Emmet (Mullins) trainiert, seine wenigen Fans sehr reich machte.

Nach keiner Form wettbar, war der Blickwinkel über seinen Reiter Sam Waley-Cohen zu suchen. Mit Amateur-Lizenz im Sattel, war der Grand National-Ritt sein letzter Ritt als aktiver Reiter:  Waley-Cohen, Zahnarzt mit einer Kette von Praxen, hatte zuvor seinen Abschied vom Rennsattel verkündet. Am Samstag war er zudem, und dies sagt so einiges über seine Qualitäten als Reiter, der mit Abstand erfolgreichste Jockey über diese einzigartigen Hindernisse; hatte sechs Siege (in der Foxhunter -, Topham – und Becher Chase) er-ritten. Das Grand National fehlte in der Sammlung des 40jährigen, sein couragierter Ritt auf seinem willigen Partner dann auch beinahe lehrbuchmäßig. Allerdings handelte sich Waley-Cohen wegen missbräuchlicher Nutzung der Peitsche eine Geldstrafe und 9-tägige Sperre ein; Makulatur, wenn man nie wieder in den Rennsattel steigen wird.

Nicht der einzige Kritikpunkt am Rennen: zwei Pferde verloren im Rennen ihr Leben; insgesamt starben in den drei Tagen vier Pferde. Ein Pferd wurde nach einem schweren Kolik-Anfall mit Blaulicht und Polizei-Eskorte in eine Klinik gebracht und konnte erfolgreich operiert werden. Im Grand National verunglückten der von Paul Nolan trainierte Discorama und der von Emma Lavelle trainierte Eclair Surf, wie ihr Stall über Social Media am Tag nach dem Rennen bekannt gab. Besonders tragisch, dass Eclair Surf einer der erwähnten Nachrücker war und als eine der Reserven erst am Vorabend des Rennens ins Starterfeld geschlüpft war.  Von den 40 Startern kamen 15 Pferde ins Ziel, als gefallen / „brought down“ (durch ein fallendes Pferd verunglückt) wurden fünf Pferde gezählt. Nach hinten heraus waren die Abstände exorbitant, der letzte „Ankommer“ Lostintranslation kam offiziell 263 (!) Längen hinter dem Sieger ein und trabte de facto über die Ziellinie. Die offizielle Siegerzeit von über neun Minuten lag über dem Durchschnitt; gerade auf gutem, schnellen Boden kommen die modernen, beinahe ausschließlich auf Basis von Flachrennpferden gezogenen Hindernispferde an deutliche Grenzen.

Auch die anderen tragenden Rennen des letzten Tages (ein jedes hatte Graded Status, davon drei Gr.1-Rennen) blieben fest in irischer Hand. Keines der Rennen der höchsten Klasse blieb im Lande, gerade in der Maghull Novices´ Chase (Gr.1, ca. 3200m), in der der von Willie Mullins für JP McManus trainierte Gentleman de Mee den heißen Favoriten Edwardstone eiskalt abfertigte, hatte man anderes erwartet. „Ein Pferd für alle Championship-Rennen im nächsten Jahr“ machte Mullins Hoffnung auf mehr.

Wiedergutmachung auch für Gordon Elliott, dessen Pied Piper am Eingangstag disqualifiziert worden war. Mit Three Stripe Life (Jockey Davy Russell) und Sire Du Berlais (Mark Walsh) gingen beide Gr.1-Hürdenrennen an seinen Cullentra-Stall, letzter in den Farben von JP McManus, der erst am Morgen in die Aintree Hall of Fame aufgenommen worden war.  Mark Walsh hatte Sire Du Berlais, der lohnende16-1 zahlte, im Einlauf der Liverpool Hurdle (ca. 4960m, und damit eine Revanche für die Stayer´s Hurdle von Cheltenham) deutlich nach links driften lassen; nach der Ehrung kam eine weitere Disqualifikation aber wohl kaum in Frage. Es war die mit Abstand beste Leistung des 10j.Wallachs überhaupt, und mit Flooring Porter, Thyme Hill und Champ besiegte er echte Kaliber der momentanen Staying Hurdler- Szene. Im Grand National selber war Elliott in diesem Jahr nicht vom Glück verfolgt. Zwar beendeten immerhin vier seiner Starter das Rennen, der dritte Platz von Delta Work, hinter Noble Yeats und Any Second Now, war die beste Ausbeute.

Ein letztes Wort soll der Vergangenheit gelten. Es ist eine der schönsten Traditionen des Renntages, das ehemaligen Grand National-Sieger dem Publikum in einer Parade vorgestellt werden. Der älteste noch lebende Sieger, Silver Birch, 25 Jahre jung, und Tiger Roll, der somit an die Stätte seiner größten Triumphe zurückkam und im Rennen schmerzlich vermisst wurde, kamen aus dem Stall von Gordon Elliott; tatsächlich hatte Silver Birch seinerzeit den allerersten Treffen seines Trainers auf englischem Boden markiert.

Catrin Nack

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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